Thomas Härry

Ich wünschte mir, es wäre anders, oder wenigstens selten. Doch es gibt kein schmerzfreies Leiten. Die Reihenfolge kann unterschiedlich sein: Manchmal ist das Leiden von Leitenden eine Folge ihres Leitens. Ein anderes Mal ist ihr Leiten Antwort auf ein bestimmtes Leiden, eine bestimmte Not. Immer aber geht beides einher: Leiden und Leiden.

Eine biblische Person, die dies besonders deutlich erfahren hat, ist Mose. Bei ihm lassen sich diese drei Stationen erkennen: Sein Leiden führt ihn ins Hören; sein Hören treibt ihn zum Leiten. Auf Schweizerdeutsch ergibt dies ein schöner Dreiklang: „Liide – Lose – Leite“.

Leiden: Numeri 11: Es beginnt mit einem Aufstand. Dem Volk hängt das von Gott gegebene „Manna“ zum Hals heraus. Es will Fleisch! Die Unzufriedenheit der Menschen frustriert Mose so sehr, dass er seine Leiteraufgabe und sogar sein Leben fortwerfen will.

Das ist keine Seltenheit. Wie oft leiden Leitende an der Undankbarkeit, an den Ansprüchen und der Kritik derer, die sie leiten! Ich halte Entmutigung für die grösste Kräfte-Vernichterin der Leiterschaft. Doch Leitende leiden oft genug auch an sich selbst: An eigenen Unzulänglichkeiten. An ihrem Versagen. Am Gefühl, der Aufgabe und den damit verbundenen Schwierigkeiten nicht gewachsen zu sein.

Was tut Gott, wenn Leitende leiden? Er ruft sie in seine Gegenwart. Mose wird aufgefordert, das „Zelt der Gottesbegegnung“ aufzusuchen – der Ort, an dem der Herr mit ihm zu sprechen pflegt. „Dann werde ich herabkommen und dort mit dir reden“ (17). Wenn wir in unserem Leiten leiden, ist dies für uns der beste Ort. Dann brauchen wir nichts so sehr wie Gottes Reden, seine Weisung, neue Orientierung: „Wie geht es weiter?“ – „Was soll ich tun?“

Hören: So verordnet Gott dem verzweifelten Mose eine Zeit des Hörens. Führt ihn die Gottesbegegnung. Innhalten. Raus aus dem Sog nach unten. Gottesbegegnung. Darum wirbt Gott bei leidenden Leitern. An diesem Ort wird uns die Klärung geschenkt, die wir brauchen. Unser Blick wird umgelenkt: Von den Unmöglichkeiten der Menschen, die wir führen und den Umständen, in denen wir festsitzen, hin zu Gott und seinem Vermögen.

Gott verspricht Mose, dem murrenden Volk Fleisch zu geben. So sehr sich dieser freut – er kann es sich nicht vorstellen. Sieht eine neue Last auf sich zukommen: „Wir haben doch gar nicht genug Schafe und Rinder!“ Gott antwortet mit einer Aussage, die ich für eine der wichtigsten Selbstoffenbarungen Gottes halte: „Ist denn die Hand des Herrn zu kurz?“ (23)

Aus diesem Grund brauchen wir Leitende in unserem Leiden das Hören: Dort flüstert uns Gott zu und führt uns das Wichtigste überhaupt vor Augen: „Meinst du, ich vermag nicht zu tun, was ich mir vorgenommen habe? Sollte mir etwas unmöglich sein?“ Dieses Statement finden wir mehrfach wiederholt und in verschiedenen Varianten in der ganzen Bibel: Die Begrenzung durch das Unmögliche ist für Gott unmöglich! Wir hingegen stoßen oft und schnell an unsere Grenzen. Deshalb brauchen Leitende diese ständige Erinnerung an Gottes Vermögen, an seine Möglichkeiten, an seine Auswege, an seine unbegrenzten Optionen. Im Hören kommt Er zu uns. Im Hören kommt Er uns in Seiner Kraft vor Augen. Dort finden wir neuen Mut zum Leiten. Wie das Leiden uns ins Hören führte, führt uns das Hören ins Leiten.

Leiten: Mose verlässt sein Zelt und beginnt wieder zu führen. Er führt, indem er priestlich und gnädig für Mirjam und Aaron eintritt, die sich gegen ihn aufgelehnt haben (Kapitel 12). Das können nur Menschen, die von Gott her kommen: Auch denen dienen und mit Gnade begegnen, die an ihrem Stuhl sägen. Die ihnen Schweres zumuten. Die zu den Verursachern ihres Leidens gehören. Kurz darauf der nächste Leitungsakt: Mose sendet auf Gottes Geheiß zwölf Kundschafter aus, die sich im versprochenen Land umsehen sollen (Kap. 13). Mose hat seine Handlungsfähigkeit wiedererlangt.

Mut zum Führen entsteht aus der Bereitschaft zum Hören. Er kommt nicht aus uns selbst. Gott erweckt ihn in uns und befähigt uns zum Entscheiden, Handeln und Weitergehen. Nachdem das Leiden uns Handlungsfähigkeit und Lebensmut raubten, gibt Gott sie uns im Hören auf ihn wieder zurück.

Im Neuen Testament ist es Jesus, der Leiter aller Leiter, der ausgerechnet im Leiden seinen grössten Leitungsakt vollbringt: Im Moment seiner größten Ohnmacht, am Kreuz verblutend, entmachtete er Tod und Teufel und öffnete den Weg zum Herzen Gottes. Sein Leiden wird zur Klimax seines Leitens! Von ihm lernen wir, dass auf dem Boden unseres Leidens manchmal die wertvollsten Früchte unseres Leitens wachsen.

Dieser Artikel ist erstmals erschienen in der Zeitschrift AUFATMEN, August – Oktober 2014, Seite 77. Thomas Härry lebt mit seiner Familie in Aarau und ist Dozent am Theologisch-Diakonischen Seminar Aarau, Referent und Autor.